„Ich möchte mit Ihnen streiten, meine Damen und Herren!“ Erwin Gegenbauer schaut uns streng in die Augen. Wir, rund ein Dutzend Bierliebhaber aus ganz Deutschland, sitzen rund um den Tisch aus groben Holzbohlen und schauen ein wenig irritiert, aber gespannt zurück. „Streiten möchte ich mich Ihnen!“, fährt Gegenbauer fort, „Wir alle sitzen doch nur noch vor unseren Tablets und Smartphones, wir unterhalten uns nicht mehr, und wir streiten uns nicht mehr! Wir essen und trinken nur noch nebenbei, achten nicht mehr auf das, was wir zu uns nehmen, schieben alles nur noch gedankenlos in uns hinein. Und daher möchte ich mit Ihnen streiten. Nicht über Politik oder Sport, sondern über unser Essen, unseren Geschmack, unsere Lebensmittel.“
Zugegeben, ein leicht provozierender Auftakt zu unserer Betriebsbesichtigung der Firma Gegenbauer, die als Essigbrauerei bekannt und berühmt ist, seit zwei Jahren aber auch Bier braut.
1929 als Sauerkraut- und Essiggurkenfabrik von Ignaz Gegenbauer gegründet, wuchs die Firma Gegenbauer später als Konservenfabrik mit Schwerpunkt auf sauer eingelegten Gemüsen weiter. Als Erwin Gegenbauer die Firma 1992 übernahm, hatte sie rund 620 Mitarbeiter und Produktionsstätten nicht nur vor Ort im Wiener Stadtteil Favoriten, sondern auch in Deutschland und in Tschechien.
Erwin Gegenbauer wurde die fabrikmäßige, höchst kommerzialisierte Lebensmittelherstellung jedoch zuwider, und er konzentrierte sich lieber auf qualitativ hochwertige, gerne auch etwas teurere, dafür aber einzigartige Produkte. Essig steht im Mittelpunkt, und in den rund 25 Jahren seines Wirkens hat Gegenbauer es geschafft, zu einem wahren Meister der Essigproduktion zu werden. Die langgestreckten Gewölbe der Kellerräume unter seinem Betrieb stehen voll mit hunderten von Glasballons und Fässern, in denen die exotischsten Essigsorten reifen. Geheimnisvoll in verschiedenen Farben schimmernd, mit dicken Bakterien- und Pilzkulturen überzogen, leicht säuerlich duftend stehen sie aufgereiht, und wir wandern durch die schier endlosen Gänge.
Mit einer Pipette hebt Erwin Geigenbauer hier und da mal einen Tropfen eines ganz besonderen Essigs aus der Flasche, träufelt ihn uns unter die Zunge und lässt uns die wunderlichsten sauren Kreationen verkosten. Von zart und weich bis pfeffrig scharf, fruchtig oder gemüseartig, süßlich oder kräftig herzvoll die Palette der Geschmacksrichtungen ist schier unendlich.
Mit jedem Tropfen des verkosteten Essigs werden wir neugieriger neugieriger auf das hier gebraute Bier.
Inmitten der Essigballons und Holzfässer finden sich nämlich auch ganz normale KEGs, hinter großen Bottichen für den jungen Essig stehen Gär- und Lagertanks und direkt neben dem vor sich hin brummenden Fermenter mit den Essigbakterien steht die Brauerei. Eine einfache, aber zweckmäßige Konstruktion eines chinesischen Herstellers, und mit Sicherheit eine hygienische Herausforderung für die Brauerin Angela, die sich als gelernte Chemikerin den Brauprozess im Selbststudium erarbeitet und sich das notwendige Prozesswissen selbst angeeignet hat.
Extrem sorgfältige Hygienemaßnahmen und ein geschlossener Produktionsprozess sind das Geheimnis, erzählt sie, dann bestünde auch keine Gefahr der Kontamination des Biers mit Essigbakterien. Jeder einzelne Schritt würde sorgfältig überwacht, und als Chemikerin habe sie schon ein Gespür dafür, wie man sorgfältig und eigentlich fast durchgängig unter Verschluss arbeitet. Selbst die verschiedenen Hefestämme für das eigene Bier kultiviert sie selber, verwendet die Hefe immer wieder neu, züchtet sie selber weiter.
„Ich muss immer in Kreisläufen denken“, erläutert Erwin Gegenbauer. „Alle Rohstoffe, die ich einsetze, alle Abfälle, die anfallen, möchte ich im Kreislauf immer wieder neu einsetzen; nichts darf verschwendet werden. So, wie die Treber oder anfallendes Fruchtfleisch an anderer Stelle wieder eine sinnvolle Verwendung finden, so soll auch die angefallene Hefe im Kreis geführt werden, und so wird sich durch die Anpassung an den Produktionsprozess irgendwann auch ein ganz eigener ‚Gegenbauer-Hefestamm‘ entwickeln.“
Nach so vielen Erläuterungen ist es nun aber wirklich an der Zeit, an den großen Tisch im Verkaufsraum zurückzukehren und Angelas Biere zu probieren.
Den Auftakt macht Unsa Bier, ein fruchtiges, mildes Bier im belgischen Stil, rund und gefällig. Die Verkosterrunde ist zufrieden. Erwin Gegenbauer serviert dazu frisch gebackenes Brot, ein paar selbst gesäuerte Gurken völlig anders schmeckend als die Konserven aus dem Supermarkt, natürlich und selbstgemachte Wurst eines befreundeten Metzgers aus Ligurien. Alles vom Feinsten.
Das zweite Bier, das Wiener Bier, ist mit Einkorn und Emmer gebraut und wenn ich es richtig interpretiere mit einem etwas ungestümen, rauen Hefestamm vergoren. Ein erfrischendes, aber auch forderndes Bier mit Ecken und Kanten, an ein Saison-Bier erinnernd. Sehr sympathisch!
Und schließlich das dritte, ein ganz besonderes Bier. Edelsaures nennt es sich, und so schmeckt es auch. Ein stark eingebrautes Bier aus den schon genannten Urgetreidesorten Emmer und Einkorn wurde in einem Balsamico-Fass gelagert und anschließend in mit weißem Papier blickdicht eingehüllte Flaschen gefüllt. Das Bier schäumt überhaupt nicht, hat kaum noch Kohlensäure, dafür aber eine intensiv säuerliche Nase mit feinen Holzaromen. Auf der Zunge ist es deutlich sauer, aber durch eine solide Restsüße und viele fruchtige Aromen dennoch ausgewogen und gut trinkbar. Im Abgang verschwindet die Säure langsam, macht Platz für malzige und holzige, nur ganz leicht adstringierende Empfindungen. Ein spannendes und beeindruckendes Bier. Leider auch sehr teuer, 18,00 EUR für eine Drittelliterflasche sind schon eine Ansage.
Erwin Gegenbauer könnte vermutlich noch stundenlang weitererzählen. Er ist zwar ein von sich selbst uneingeschränkt überzeugter Selbstdarsteller, aber auch sehr unterhaltsam. Und so berichtet er von seinen Experimenten mit verschiedenen Ölen. Beispielsweise presst er Öl sogar aus den winzigen Kernen von Himbeeren ein sehr spannendes Geschmackserlebnis, wenn der winzige Öltropfen auf der Zunge zunächst nussige Aromen am Gaumen erzeugt und diese dann langsam, ganz langsam einem hauchzarten Himbeeraroma Platz machen. Oder von seinen Erfahrungen mit dem gewaltigen, sechs Meter hohen Holzfermenter, in dem er auf Buchenspänen seinen Essig reifen lässt. Oder von den Balsamico-Fässern, die er auf dem Dach des Hauses stehen lässt. Bei Wind und Wetter. Und wenn im Sommer ein wenig Balsamico durch die Eichendauben schwitzt, ernähren sich seine Bienenvölker davon, und so produziert er einen weltweit einzigartigen Balsamico-Honig. Oder von…
Aber halt, irgendwann muss Schluss sein. Erwin Gegenbauer hat keine Zeit mehr, wir auch nicht. Wir nutzen die Gelegenheit, noch ein paar Leckereien in seinem Shop zu kaufen und verabschieden uns, ziehen weiter durch die Stadt. Nur eine feine säuerliche Note im Gaumen, die bleibt uns noch eine Weile erhalten, erinnert an den Besuch in einer der wohl eigenartigsten, skurrilen Brauereien des Landes.
Der Shop der Brauerei Gegenbauer im Hauptbetrieb in der Waldgasse, dort wo auch die Brauerei steht, ist montags bis donnerstags von 08:00 bis 17:00 Uhr geöffnet; freitags nur bis 12:00 Uhr. Zu erreichen ist die Brauerei mit der U-Bahn, Haltestelle Keplerplatz oder Reumannplatz, von dort etwa 400 m Fußweg. Die Gegenbauer-Produkte sind auch auf dem Naschmarkt am eigenen Stand (Nr. 110) erhältlich, dort geöffnet montags bis sonnabends von 09:00 bis 18:00 Uhr.
Brauerei Gegenbauer
Waldgasse 3
1100 Wien
Österreich